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CURANDUM: Gesundheitsmodell für mehr als 21.000 Menschen

Wiesbaden, 24.4.2024. Die Zukunft der ambulanten Versorgung liegt in kooperativen Versorgungsmodellen. Deshalb will der Hausärztinnen- und Hausärzteverband das „Hausärztliche Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“, kurz HÄPPI, vorantreiben. Ein Pilotprojekt zu diesem innovativen Versorgungskonzept startet ab Juli 2024 in Baden-Württemberg. Unabhängig davon gibt es in Hessen bereits ähnliche Konzepte. So hat die Hausärztin Dr. med. Susanne Springborn ein Gesundheitsmodell für 21.000 Menschen in abgelegenen Stadtteilen Wiesbadens entwickelt – und sie ist Pionierin der Telemedizin.

„Früher haben Hausarztpraxen nebenbei sehr viel an sozialer und sozialmedizinischer Arbeit geleistet – heute fehlt dafür oft die Zeit“, sagt Dr. med. Suanne Springborn. Die 55-Jährige ist leidenschaftliche Hausärztin, praktiziert seit 1999. Als sie sich damals in Breckenheim, einem der nordöstlichen Stadtteile Wiesbadens mit ländlichem Charakter, niederließ, waren in der Region noch elf von zwölf Hausarztsitzen besetzt – heute sind es nur fünf. „Ich habe mehrfach erlebt, wie es ist, wenn plötzlich eine große Hausarztpraxis schließt und 3.000 Patientinnen und Patienten quasi vor der Tür stehen“, sagt Springborn, die mit Ella Komissarenko und Dr. med. Nicole Ressel eine allgemeinmedizinische Praxis betreibt.

Unterversorgung im hausärztlichen Bereich „nur die Spitze des Eisbergs“

Die Unterversorgung im hausärztlichen Bereich sei nur die Spitze des Eisbergs, sagt Springborn: „Nicht nur der Mangel an Ärztinnen und Ärzten zwingt uns neue Wege zu gehen: Auch die demographische Entwicklung. Die Menschen werden immer älter, der Bedarf an Gesundheitsleistungen wächst. Gleichzeitig sehe ich viele Haushalte zusammenbrechen, wenn Seniorinnen und Senioren nicht mehr alleine zurechtkommen. Wer organisiert zum Beispiel eine Hauswirtschafterin, einen Pflege- oder Besuchsdienst, wenn die Kinder weit entfernt wohnen oder wenn es keine Kinder gibt?“, so die Ärztin. „Viele Jahre habe ich versucht, meinem sozialmedizinischen Auftrag gerecht zu werden – bis ich erkannt habe, dass ein anderes Arbeitsmodell notwendig ist.“

CURANDUM: ein umfassender Lösungsansatz

Seit 2017 hat Springborn, die als Dozentin für Gesundheitsökonomie an der Rhein-Main-Hochschule Digitalisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen lehrt, CURANDUM aufgebaut: ein sektorenübergreifendes, nachhaltiges Gesundheitsmodell, das ihr die Arbeit erleichtert und den Patientinnen und Patienten zugutekommt. „Damals gab es hier keinen Pflegedienst, kein Sanitätshaus, keine Ergotherapie, kein Altenheim – und nur noch sechs von zwölf Hausarztsitzen“, erinnert sie sich. Gemeinsam mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern gründete sie zunächst den gemeinnützigen Verein CURANDUM. Das Ziel des Vereins: Neue Wege in der Prävention, Betreuung und Pflege zu gehen und das selbstbestimmte Leben im Alter zu fördern und zu ermöglichen. „Mehr als 5.500 der rund 21.000 Menschen, die in den nördlichen Stadtteilen Wiesbadens leben, sind 65 Jahre und älter – und die Zahl der Menschen, die aktiv betreut werden müssten, beläuft sich auf 1.600“, sagt Springborn.

„Ein Netz von Kümmerern“

„Es geht uns darum, ein Netz von Kümmerern zu schaffen“, erklärt Springborn. Die Ärztin hat über den Verein Apotheker, Hausärztinnen, eine Frauenärztin, einen Zahnarzt, Psychotherapeuten, ein Osteopathen, einen Pflegedienst, einen Sanitätshaus und andere zusammengebracht. Mehr als 60 Akteure aus dem Gesundheitsbereich haben sich über CURANDUM vernetzt – zu einem virtuellen Gesundheitszentrum. Sie arbeiten zusammen und erledigen auch mal einen Auftrag auf Zuruf.

Drei Ebenen: Gesundheitszentrum, Versorgungsverbund und Gesundheitsforum

„Das Gesundheitszentrum ist die erste Ebene“, erklärt Springborn. Es gibt eine gemeinsame Homepage, quartalsweise Treffen und seit 2021 eine gemeinsam finanzierte Administration. Die zweite Ebene ist der sektorenübergreifende Versorgungsverbund, in dem unter anderem Mitglieder der Ortsbeiräte passgenau die Bedarfe der Region formulieren. Diese Bedarfe werden zum Beispiel durch Ortsbeiratsbeschlüsse an die Kommunen weitergeleitet oder direkt vom Versorgungsverbund abgearbeitet. Dafür nutzt er den gemeinnützigen Verein. Dritte Ebene ist das Gesundheitsforum der Stadt Wiesbaden, das den Versorgungsverbund und bei Bedarf das Gesundheitszentrum unterstützt.

Bei der Quartiersmanagerin laufen die Fäden zusammen

Letztlich laufen die Fäden bei zwei Quartiersmanagerinnen zusammen. Sie sind Ansprechpartnerinnen für Patienten und ihre Angehörigen. Wie früher Gemeindeschwestern wissen sie Rat, wenn jemand, der gehbehindert ist, zum Arzt gefahren werden muss oder erwachsene Söhne und Töchter ratlos sind, weil ihre Eltern plötzlich nicht mehr alleine zurechtkommen. Mit rund 70.000 Euro jährlich wird die Arbeit der Quartiersmanagerinnen über ein gemeinsames Förderprojekt des Landes Hessen und der Wiesbadener Kommune finanziert.

Ein weiterer Baustein: Videosprechstunden

Ein weiterer Baustein des CURANDUM-Modells sind Videosprechstunden. Seit 2017 dürfen Ärztinnen und Ärzte Videosprechstunden abrechnen. Springborn erkannte schnell, dass die Telemedizin ihr, aber auch den Patientinnen und Patienten Vorteile bringen kann: „Mir ersparen die Videosprechstunden so manchen Weg. Und für diejenigen, die schlecht zu Fuß sind, verringert sich die Sturzgefahr, außerdem entfällt die Ansteckungsgefahr, die in vollen Wartezimmern besteht“, sagt sie. So kann man sich in ihrer Praxis seit 2018 zur Videosprechstunde anmelden. Die zweite Möglichkeit: Eine nichtärztliche Praxisassistentin (NÄPA), die Patientinnen und Patienten zum Beispiel zum Blut abnehmen oder zur Wundversorgung zu Hause besucht, wählt sich dort über ein Tablet bei Springborn ein und bespricht mit ihr die Behandlung.

Quartiersarbeit erhält bestehende Versorgungsstrukturen

„CURANDUM ermöglicht uns ein ganz anderes Arbeiten“, sagt Springborn, „Und es kommen nachweislich weniger Menschen in den Notdienst“. Sie ist überzeugt: „Quartiersarbeit als gesundheitliches Primärversorgungsmodell erhält bestehende Versorgungsstrukturen und entwickelt diese nachhaltig, insbesondere im unterversorgten Raum.“ Und sie formuliert, was dafür getan werden muss: „Wir brauchen die wissenschaftliche Kosten-Nutzen-Evaluation anhand bestehender Modelle, wir brauchen die wissenschaftliche Evaluation der Akzeptanz in der Bevölkerung – und die Implementierung der Quartiersarbeit im Sozialgesetzbuch V.“

 

Dr. med. Susanne Springborn, Hausärztin in Breckenheim, ist Dozentin und Lehrbeauftragte an der Hochschule RheinMain im Fachbereich Gesundheitsökonomie, Business School Wiesbaden. Ihre Praxis, die sie gemeinsam mit Ella Komissarenko und Dr. med. Nicole Ressel betreibt, ist Lehrpraxis der Universitätsmedizin Mainz und der Universität Witten/Herdecke, Fachbereich Allgemeinmedizin. Springborn moderiert Weiterbildungsveranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte in Wiesbaden und nimmt mit ihrer Praxis am Pilotprojekt Medizinische Televisite Rheingau (e-Health Initiative Hessen) teil. Sie ist Mitglied im Hausärztinnen- und Hausärzteverband Hessen und engagiert sich in der neu gegründeten AG Hausärztinnen des Landesverbandes.