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„Gesundheitsversorgung darf kein Objekt von Finanzspekulationen werden“

 „Gesundheitsfürsorge ist Daseinsfürsorge. Praxen und Krankenhäuser gehören nicht in die Hände von Finanzinvestoren“, warnte Christian Sommerbrodt beim 13. Hausärztetag Rheinlandpfalz. Motto der Veranstaltung in Mainz: „Private Equity und Inhaberpraxis - Schwimmunterricht im Haifischbecken“. Der erste Vorsitzende des Hausärzteverbandes Hessen hielt gemeinsam mit Markus Beier, dem Co-Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes (HÄV), einen Impulsvortrag. Darin zeigten die beiden die Gefahren von Private Equity im Gesundheitswesen auf und präsentierten als eine Antwort auf den wachsenden Versorgungsdruck das HÄPPI Teampraxis-Konzept des HÄV.

Mainz, 17. November 2023. Internationale Private-Equity-Gesellschaften haben den deutschen Gesundheitssektor als vielversprechendes Renditeobjekt für sich entdeckt: „Es gibt den fatalen Trend, dass zumeist fachfremde Finanzinvestoren Medizinische Versorgungszentren und Arztpraxen aufkaufen, um sie anschließend mit maximalem Gewinn zu betreiben. Die Gesundheitspolitik muss diese Profitgier im medizinischen Bereich unterbinden", sagte Christian Sommerbrodt. „Als Ärztinnen und Ärzte wollen wir über die bestmögliche medizinische Behandlung für unsere Patientinnen und Patienten entscheiden. Deshalb lehnen wir privatwirtschaftlich geführte Versorgungszentren, in denen Betriebswirte das Sagen haben, ab“, betonte der Hausarzt aus Wiesbaden. „Patientinnen und Patienten müssen sich sicher sein können, dass sie behandelt werden, weil es um ihre Gesundheit geht – und nicht nur, weil es sich finanziell lohnt“, so Sommerbrodt. Und genau darum ging es uns auf dem Hausärztetag in Mainz, betonte auch Barbara Römer, erste Vorsitzende des Hausärzteverbandes Rheinland-Pfalz: „Wie gestalten wir die Zukunft der hausärztlichen Versorgung?“

Finanzinvestoren kaufen Krankenhäuser als Trägergesellschaften für Praxen

Lange Zeit konnten Finanzinvestoren in Deutschland keine Arztpraxen kaufen, denn diese dürfen eigentlich nur von Ärzten betrieben werden. Das änderte sich 2002: Damals ermöglichte die Bundesregierung, medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen, in denen angestellte Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen unter einem Dach arbeiten. Das Ziel war, die Versorgung vor allem in ländlichen Gebieten sicherzustellen. „MVZ können zum Beispiel von Kommunen, Ärztegemeinschaften oder Krankenhäusern getragen werden. Wenn nun Finanzinvestoren ein kleines Krankenhaus kaufen, kann dieses dann als Trägergesellschaft für Arztpraxen im gesamten Bundesgebiet fungieren“, erklärt Sommerbrodt das System.

„Zersplitterung führt zu Verunsicherung“

Die Zersplitterung der Versorgungslandschaft führe zur Verunsicherung und Überforderung des ärztlichen Nachwuchses: „Die Praxisführung wird unattraktiv durch Überbürokratisierung und zunehmende Komplexität“, so Sommerbrodt. Inzwischen gebe es neben dem ersten und zweiten Gesundheitsmarkt neue Dienstleister wie etwa Fitnessstudios oder Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln. Hinzu kämen Player wie Facebook, Google, Apple, Amazon, Jameda, Doctolib, Vitabook, Lifetime, Ada, DIGAs – und Privat Equity-Gesellschaften.

„Private-Equity-Gesellschaften stehen unter Rendite-Druck“

„Private-Equity-Gesellschaften beschränken sich nicht auf die bloße Übernahme einzelner Arztpraxen, sondern fügten die übernommenen Praxen zu Ketten zusammen, die dann auf Wirtschaftlichkeit getrimmt und mit hoher Rendite betrieben oder auch nach einigen Jahren gewinnbringend weiterverkauft werden sollen“, erklärt Sommerbrodt. Deshalb sähen sich die Investoren unter dem Druck, den Wert der Praxisketten zu erhöhen – etwa, indem sie weitere Praxen zukaufen oder Kosten einsparen, um höhere Gewinne zu erzielen.

Jeder neunte Arzt hat bereits ein Kaufangebot bekommen

Wie viele Praxen in der Hand von Investoren sind, ist unklar. Laut der Stiftung Gesundheit haben schon 11,7 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ein Angebot zur Übernahme ihrer Praxis von einem Investor bekommen. Besonders gefragt sind Facharztpraxen: Die Umfrage ergab, dass schon etwa jeder sechste Facharzt (17,1 Prozent) von Investoren wegen einer Übernahme kontaktiert wurde. Von allen Medizinern, die ein Angebot erhalten hatten, nahmen 8,5 Prozent dieses an. Und 25,5 Prozent sagen, sie hätten es angenommen, wenn die Konditionen gestimmt hätten.

„Monopolisierung gefährdet die Versorgung“

Sommerbrodt warnt vor dem fortschreitenden Aufkauf des ambulanten medizinischen Sektors durch Private Equity und börsennotierte Aktienunternehmen: „Eine Monopolisierung gefährdet die Versorgung, die freie Arztwahl kann eingeschränkt werden, die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen wird gefährdet, sie werden von wirtschaftlichen Interessen überlagert“.  Sein Fazit: „Medizin ist kein Gewerbe, sondern ein freier Beruf, Gesundheitsfürsorge ist Daseinsfürsorge, Praxen und Krankenhäuser gehören nicht in die Hände von Investoren – und Gesundheitsversorgung darf kein Objekt von Finanzspekulationen werden“. Für mehr Transparenz für Patientinnen und Patienten würde zum Beispiel ein öffentliches und frei zugängiges MVZ-Register sorgen. Zusätzlich sollten die MVZ dazu verpflichtet werden, die Trägerschaft auf dem Praxisschild auszuweisen. „Der Gesetzgeber muss endlich handeln“, so Sommerbrodt.

Eigentlich hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bereits Ende 2022 in der Bildzeitung angekündigt, man werde den „Einstieg dieser Heuschrecken in Arztpraxen“ beenden. In der Süddeutschen Zeitung legte er im Februar dieses Jahres nach und erklärte, investorengeführte MVZ „unterbinden“ zu wollen. Ziel war, bereits im ersten Quartal dieses Jahres einen Gesetzesentwurf zur strengeren Regulierung von Investoren im medizinischen Bereich vorzulegen. Doch das ist noch immer nicht passiert.

HÄPPI Teampraxis: Das neue Versorgungskonzept des Hausärzteverbandes

Wenn investorengeführte MVZ nicht die Lösung für die drängenden Probleme in der wohnortnahen ambulanten Versorgung sind – was kann dann helfen? Im zweiten Teil des Vortrages beim 13. Hausärztetag Rheinland-Pfalz stellte Dr. Markus Beier, Co-Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes (HÄV), das HÄPPI Teampraxis-Konzept vor. HÄPPI steht für „Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“. Dabei handelt es sich um ein Versorgungskonzept, das der HÄV in Kooperation mit der Universität Heidelberg entwickelt hat Das HÄPPI-Konzept beschreibt Strukturen und Rahmenbedingungen, die neue Formen der Zusammenarbeit im Team ermöglichen sollen. „Mit HÄPPI antworten wir auf den stetig wachsenden Versorgungsdruck, der unsere Praxen mehr und mehr in die Knie zwingt. Es ist unser Angebot an Politik, Kassen, aber insbesondere an die Hausarztpraxen, wie Teamarbeit künftig unter hausärztlicher Leitung multiprofessionell und mit Hilfe digitaler Tools effizienter und zukunftsorientierter gestaltet werden kann“, sagte Beier.

Praktiker und Wissenschaftler identifizieren Stellschrauben in den Praxisabläufen

Vorangegangen war eine wissenschaftliche Befragung, in der mögliche Stellschrauben in den Praxisabläufen und der Teamarbeit identifiziert wurden. Ein zentrales Element des Konzepts ist es, Praxismitarbeitenden je nach Fachkenntnissen und unter Aufsicht der Hausärztinnen und Hausärzte mehr Aufgaben in der Patientenversorgung zu übertragen. Weitere wichtige Pfeiler: eine stärkere Patientenzentrierung durch die Integration von strukturiert erfassten Patient-Reported-Outcomes und der vermehrte Einsatz digitaler Tools, die das Praxismanagement effizienter gestaltet werden können.

„Mehr Zeit für Patientinnen und Patienten “

„In einer HÄPPI-Praxis trägt die Hausärztin oder der Hausarzt weiterhin die Verantwortung und bleibt damit Kopf der Versorgung“, erläuterte Beier. Neu sei, dass die Mitarbeitenden stärker in die Versorgung der Patientinnen und Patienten integriert würden. „Dadurch sollen die Hausärztinnen und Hausärzte wieder mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben, die ihre ärztliche Expertise dringend benötigen“, betonte der Co-Bundesvorsitzende der HÄV.

HÄPPI-Praxis als Ergänzung bestehender Modelle

Ziel sei es, dass die „HÄPPI-Praxis“ künftig als ein zusätzliches Angebot die bereits etablierten Praxismodelle ergänze: „Natürlich muss künftig nicht jede Praxis eine HÄPPI-Praxis sein. Aber für die Praxen, die stärker im Team arbeiten wollen, gibt es mit HÄPPI nun ein Konzept, um ihnen deutlich Druck von den Schultern zu nehmen“, so Beier.

„Ohne eine stärkere, strukturiertere Delegation von Leistungen, für die keine ärztliche Expertise erforderlich ist, werden wir vielerorts die Versorgung in unseren Praxen nicht mehr stemmen können“, so der Co-Bundesvorsitzender des HÄV. Immer mehr Anlaufstellen könnten nicht die Lösung sein, sonst werde die Versorgung noch zersplitterter als ohnehin schon. Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das: Mehr Chaos und eine höhere Fehleranfälligkeit..

Hausarztzentrierten Versorgung bietet Fundament für HÄPPI-Konzept

Mit dem HÄPPI-Konzept habe der HÄV den ersten großen Schritt getan. Nun gelte es, das Konzept möglichst schnell in die Versorgung zu bringen. Ein wesentlicher Aspekt dabei seien die finanziellen Rahmenbedingungen. „Dazu suchen wir uns starke Partner bei den Krankenkassen und sind hierzu auch bereits in Gesprächen. Unsere Verträge zur Hausarztzentrierten Versorgung bieten das perfekte Fundament, um ein solch innovatives Versorgungskonzept möglichst schnell Realität werden zu lassen“, so Beier. Ein weiterer wichtiger Schritt seien die rechtlichen Voraussetzungen, um HÄPPI vollumfänglich umsetzen zu können. „Hier erwarten wir von der Politik, dass sie uns auf unserem Weg, Delegation unter dem Dach der Hausarztpraxis neu zu denken und zu leben, unterstützt“, sagte der Co-Bundesvorsitzende des HÄV.

Das HÄPPI-Konzept steht unter www.hausaerzteverband.de/themen/haeppi zum Download zur Verfügung.