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Elektronische Patientenakte: Droht Chaos beim Start?

„Eine gut funktionierende ePA für alle wäre ein großer Gewinn – vieles ist jedoch noch so unausgereift, dass der Start im Januar 2025 chaotisch werden kann“, sagen Christian Sommerbrodt, erster Vorsitzender des Hausärzteverbandes Hessen, und Peter Franz, Geschäftsführer der Hausärztlichen Servicegesellschaft und IT-Experte des Verbandes. Die beiden Hausärzte sehen noch viel Nachbesserungsbedarf. Unter anderem beklagen sie Probleme bei der Verbindung der Akte mit den Systemen der Praxen. Im Interview sprechen die beiden über Herausforderungen, Chancen und Wünsche, die sie mit der ePA verbinden.

Hattersheim, 28. August. Eigentlich ist es eine einleuchtende Idee, die für Patientinnen und Patienten ebenso wie für Ärztinnen und Ärzte große Verbesserungen bringen kann: Befunde, Diagnosen, Laborberichte und alles weitere, was mit Gesundheitsversorgung zu tun hat, werden nicht mehr auf Papier festgehalten, sondern in einer individuellen elektronischen Ablage, so dass die medizinische Historie bei jedem Arztbesuch problemlos abrufbar ist. Genau das soll die elektronische Patientenakte (ePA) leisten. Schon seit 2021 können Versicherte in Deutschland auf Wunsch eine solche Akte anlegen lassen, bisher wird das aber kaum genutzt. Ab 2025 soll sich das ändern: Für gesetzlich Versicherte, die nicht ausdrücklich widersprechen, wird dann eine ePA angelegt. Doch viele Hausärztinnen und Hausärzte zweifeln an der Umsetzung – so auch Christian Sommerbrodt und Peter Franz.

Herr Sommerbrodt, Herr Franz, welche Schwächen sehen Sie bei der ePA?

Christian Sommerbrodt: Die ePA soll eine patientengeführte Akte sein. Das stärkt die Rolle der Patienten, doch diese Rolle muss auch erlernt werden. Der Umgang mit Dokumenten und die Möglichkeit, diese einzusehen, kann die Therapie durchaus gefährden. Die Krankenkassen müssen den Patienten entsprechende Kurse und Schulungen anbieten, damit ein eigenverantwortlicher Umgang mit der ePA gewährleistet werden kann.

Peter Franz: In Akten von Kindern und Jugendlichen werden sich durch unser absurdes Abrechnungs- und Regresssystem getriggerte Diagnosen ansammeln, was sich später nachteilig auf Versicherungsabschlüsse der Betroffenen auswirken kann.

 

Wie groß dürfen Dokumente, zum Beispiel Bilder, in der ePA maximal sein?

Peter Franz: Die Anfangskonfiguration der ePA ist sehr stark limitiert. Jedes Dokument darf die Maximalgröße von 25 MB nicht überschreiten – da werden dann Bilder von radiologischen Untersuchungen sicher nicht in der Akte zu finden sein. Auch wenn die Politik den Bürgern hier genau das versprochen hat.

 

Vielfach wird kritisiert, dass die Dateien in der ePA als PDF-A archiviert werden – warum?

Christian Sommerbrodt: Die Archivierung der Dateien als PDF-A von vielen EDV-Systemen als Container benutzt, um Word-Dokumente im eArztbrief zu transportieren. Damit bleibt ein erhebliches Risiko für so genannte Makroviren. Abgesehen davon sind die meisten pdf-Dokumente nicht durchsuchbar. Ein ordentlich geführter Index über die Inhalte der Dokumente wird erst mit sogenannten „medizinische Informationsobjekten“ (MIO) kommen.

 

Die Aktensuche erscheint also zumindest zunächst noch aufwendig zu sein – wird das denn in der Vergütung der Behandlung abgebildet?

Christian Sommerbrodt: Definitiv nicht: Es gibt 10,23 € einmalig für die Erstbefüllung und für weitere Dokumente 1,36€ bis maximal 7,88€ pro Jahr. Doch das Hauptproblem wird die Mehrarbeit durch die ePA sein. Die Datenmenge in einer ePA wächst ja stetig. Und die Aktensuche gestaltet sich derzeit noch so, als ob man eine Plastiktüte voller ungeordneter Dokumente nach einer relevanten Information durchsucht. Das soll in durchschnittlich 7,5 Minuten Behandlungszeit pro Konsultation erledigt sein? Ich glaube nicht.

Peter Franz: Das sehe ich auch so. Da werden sich einige Kolleginnen und Kollegen für ein - juristisch unsicheres, aber weniger zeitfressendes - Vorgehen ohne ePA entscheiden.

 

Stichwort Wechselwirkungen von Arzneimitteln: Wenn in die ePA alle Arzneimittel aufgenommen werden, die eine Patienten oder ein Patient verordnet bekommt, kann das nicht hilfreich sein, um Wechselwirkungen zu verhindern?

Peter Franz: Die Hoffnungen, Wechselwirkungen von Arzneimitteln durch die direkte Aufnahme aller Medikamente in die ePA zu verhindern, werden an der Realität der Versorgung scheitern. Zum einen sind manche Wechselwirkungen im Hinblick auf eine notwendige Behandlung hinzunehmen und hinreichend bekannt, zum anderen ist ein vernünftig erstellter und aktuell gehaltener Medikationsplan eine Illusion, die meisten Pläne sind genau bis zum Verlassen der Praxis aktuell.

Christian Sommerbrodt: Auch die Aufnahme von frei verkäuflichen Medikamenten in die ePA ist nicht geklärt. Und vor allem hier ergeben sich schnell unüberschaubare Wechselwirkungen.

 

Taugt denn die Datensammlung für die ePA wenigstens, wie von der Politik gebetsmühlenartig wiederholt, für die Forschung?

Christian Sommerbrodt: Ich denke nicht, dass eine unstrukturierte Sammlung von Bildern mit Text, Laborwerten ohne strukturelle Zuordnung, pseudonymisierten Patientendaten und von irgendwo verordneten, gekauften, zum Teil auch gar nicht eingenommenen Medikamenten auch nur brauchbare Korrelationen, geschweige denn wissenschaftliche Schlüsse zulässt. Das wird erst mit zukünftigen Versionen der ePA möglich werden, in wie weit dann diese Daten dann auch durch KI-Algorithmen ausgelesen werden können, bleibt fraglich.

 

Laut einer aktuellen Prognos-Studie können in der ambulanten Versorgung durch die Digitalisierung 52 Millionen Arbeitsstunden pro Jahr eingespart werden, was weitere 9,9 Millionen Arztkontakte ermöglichen soll. Wie sehen Sie solche Zahlen?

Peter Franz: Ich sehe nicht, wo digitale Anwendungen Arztzeit am Patienten sparen könnten. Versuche mit KI-basierten Telefonservices haben gezeigt, dass diese derzeit keine Zeit der medizinischen Fachangestellten einsparen. Sie können manchmal den Nutzen haben, Arbeit an weniger belastete Zeitpunkte zu verschieben, wenn Information zeitversetzt bearbeitet werden können. Online-Konsultationen brauchen in der Regel mehr Zeit, da ein Teil der Information fehlt und Nachfragen nötig sind. Sie können Wege ersparen oder Infektionsrisiken vermeiden, aber Zeitreserven schaffen sie nicht. Eine Digitalisierung reduziert nicht die notwendige Zeit am Patienten. Erfahrungen aus der Vergangenheit erinnern an das "Parkinsonsche Gesetz der Verwaltung": Danach steigt Bürokratie in dem Maße, in dem Zeit zu ihrer Erledigung zur Verfügung steht.

Wie erleben Sie die Digitalisierung in Ihren hausärztlichen Praxen generell?

Peter Franz: Bisher ist die Digitalisierung eigentlich ein Trauerspiel. Wenn man bedenkt, dass mein Vater 1983 den ersten Praxis-Computer hatte und in der Praxis seit 1995 eine elektronische Akte existiert, die Programmwechseln und technischen Aufrüstungen zum Trotz noch immer in meiner EDV verfügbar ist, ist die politisch mit Honorarabzug erzwungene Online-Anbindung von Telematikinfrastruktur, über Stammdatenmanagement und eAU bis eRezept immer nur zum Nutzen von Anderen – meist der Krankenkassen – aber auf unsere Kosten und zulasten unserer Arbeitszeit und Leistungsfähigkeit erfolgt. Einzig der eArztbrief bringt eine gewisse Arbeitsersparnis, da dieser nicht eingescannt werden muss.

 

Wie müsste die Digitalisierung laufen, damit sie für die Praxen und für die Versorgung der Patientinnen und Patienten einen wirklichen Nutzen hat?

Christian Sommerbrodt: Vor dem Start müssten getestete und absolut stabile Funktionen unabdingbar vorhanden sein. Unsere Praxen können nicht als Beta-Tester für überteuerte Anwendungen mit zweifelhaftem Nutzen herhalten. Wenn TI-Anwendungen wirklich nützlich sind, lassen sich Kolleginnen und Kollegen überzeugen, sie zu nutzen und finden sich Anwenderinnen und Anwender auch ohne Zwang. Also braucht es einen Mehrwert für die Menschen in den Praxen. Und das von Anfang an und nicht erst in einer ominösen Zukunft.

Peter Franz: Dokumentationsaufwand und Bürokratie müssen dringend reduziert werden. Ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel ein Online-Medikationsplan, der eine Regressfreiheit auch gegen „sonstige Schäden" garantieren würde, von den Kolleginnen und Kollegen gerne genutzt würde.

 

Was funktioniert, was sorgt immer wieder für Probleme?

Christian Sommerbrodt: Mit einer guten Praxissoftware funktioniert lokal alles bestens. Die Online-Dienste sind im letzten halben Jahr stabiler geworden, aber immer noch fällt ab und zu beim Arbeiten die Verbindung aus und zieht dann, während man eigentlich Patienten versorgen möchte, Fehlersuche, Neustarts von Konnektor, Terminal, Router, Server, Computer und zum Teil kostenpflichtige Kontakte zum Support nach sich. Einige Kollegen berichten von Sicherheitssystemen (insbesondere in den Kartenlesegeräten), die bei einer leichten Erschütterung diese Geräte unbrauchbar machen. Updates und neue Pflichtfeatures (EPA 2.0, ...) kosten in der Regel mehr, als die Förderung für die TI.

 

Zurück zur ePA: Was wünschen Sie sich von den Patienten und Patientinnen, wie sie die Akte nutzen?

Peter Franz: Ich erhoffe mir, dass Patienten praktisch damit umgehen und die ePA wie ihren persönlichen Informationsbogen betrachten. Vor allem sollten die Patienten die wichtigen Informationen nicht verstecken. Besonders nicht vor dem Hausarzt, der wirklich alle Krankheiten sehen sollte. Auch die Kollegen sollten nicht ausgeschlossen sein. Wenn ein Arzt komplett zugriffsberechtigt ist, sieht er in der ePA die Informationen, die für die Patientenversorgung wichtig sind. Wer beispielsweise vom Urologen ein Potenzmittel und vom Kardiologen wegen Herzschmerzen ein Nitrat verschrieben bekommt, ist wegen der drohenden Wechselwirkungen tatsächlich vital bedroht. Wenn diese Informationen nicht sichtbar sind und solche Interaktionen nicht aufgedeckt werden, steckt man in einem Dilemma.

Christian Sommerbrodt: Der Mehrwert einer ePA muss für Patientinnen, Patienten und Praxen gleichermaßen erlebbar sein, von Anfang an. Innovationen sind in den letzten Jahrzehnten in den Praxen von ganz alleine eingesetzt worden, wenn diese dem Praxisablauf oder einer verbesserten Diagnostik dienlich sind. Gerade die niedergelassenen Ärzte waren diesbezüglich immer sehr aufgeschlossen. Der Gesetzgeber will wieder den großen Wurf hinlegen, anstatt ein modulares und funktionierendes System langsam Schritt für Schritt einzuführen. Eine funktionierende ePA ist für die Versorgung zweifellos ein Benefit, daran müssen wir arbeiten.